In Kürze kommt mein Podcast zum Outdoor Teaching in Finnland raus – ein Gespräch mit der wunderbaren Pädagogin Ulla Myllyniemi, die seit vielen Jahren draußen unterrichtet und weiß, wie der Hase läuft (und wahrscheinlich auch, wo er wohnt 😉). Falls du aber lieber liest statt zuhörst – voilà, hier meine Zusammenfassung vom Gespräch mit Ulla Myllyniemi.
Ulla ist Lehrerin in Finnland und wurde mir von verschiedenen Lehrkräften und Ausbilderinnen empfohlen, weil sie – so deren Einschätzung – die beste Outdoor Lehrerin in ganz Finnland ist. Nebenbei hat sie das erste finnische Outdoor Teaching Netzwerk von Lehrkräften ins Leben gerufen: Ulko-opet ry, was so viel bedeutet wie „Verband der Draußenlehrer*innen“. Die dazugehörige facebook-Gruppe zählt knapp 10.000 Mitglieder*innen und lohnt einen Beitritt – vorausgesetzt du scheust Finnisch-Übersetzungsprogramme nicht… 😉
Aber zurück zu Ulla: Wir haben während meines Aufenthalts in Finnland ein langes Gespräch geführt, leider über eine Videoplattform, weil sie mit Grippe zuhause war. Ich fand das Gespräch mit ihr so inspirierend, dass ich dich unbedingt daran teilhaben lassen wollte. Das mag auch daran liegen, dass Ulla eine persönliche Verbindung zum Thema Outdoor Teaching hat: Nachdem sie an Asthma erkrankt war und die Luftqualität in ihrer Schule sehr zu wünschen übrig ließ, suchte sie eine Möglichkeit, trotzdem weiter zu unterrichten. So kam sie zum Outdoor Teaching (OT). Was sie sagt, hat Hand und Fuß, es ist lange Jahre erprobt, keiner kurzfristigen Mode unterworfen. Das macht es für mich so wertvoll und überzeugend.
Du kannst dich ja auch mal fragen, ob vielleicht auch du eine persönliche Verbindung zu diesem Thema hast. Vielleicht ist Draußenunterricht ein Weg, der zu dir passt, der dich als Lehrkraft näher zu dir selbst bringt. Sozusagen: deine Pädagogik?
OT ist leider noch lange nicht in den Schulen angekommen, in Deutschland noch viel weniger als in Finnland, wo gerade nachhaltige Strukturen wachsen, die OT verankern. Im Moment haben wir es bei OT also noch mit Pionierarbeit zu tun, aber es wird kommen, mehr und mehr. Da bin ich mir sicher. Es existieren bereits Netzwerke wie draussenunterricht.de in Deutschland oder Silviva oder draussenunterrichten.ch in der Schweiz. Um wirklich Anklang zu finden, müsste es aber, da waren Ulla und ich uns einig, Teil der Lehrkräfteausbildung sein. Ulla wünscht sich, dass die Studierenden bzw. Lehrkräfte das Handwerkszeug nicht auf die Weise lernen müssen, wie sie es gelernt hat: als Ausweg, sondern, dass sie damit früh in Kontakt kommen und es als Weg für sich sehen können.
Hier also jetzt zentrale Mitbringsel aus dem Gespräch.
1 | Was ist OT überhaupt?
Ulla erklärte mir, dass OT nichts Starres ist, sondern vielmehr ein Konzept, das sich verschiedener
pädagogischer Ansätze bedient, sie nennt es fusion / hybrid pedagogigs. Das kann sich speisen aus Erlebnis- und Abenteuerpädagogik, Sonderpädagogik, Theaterpädagogik,
Spielpädagogik, Positive Psychologie usw. Letztlich stattet jede Lehrkraft ihren Draußenunterricht mit eigenen Interessen und Stärken aus. Was dich ausmacht, wird sich – und darf sich – in deinem
Unterricht widerspiegeln. OT darf individuell ausgestaltet werden, es gibt für Ulla nicht den Outdoor Unterricht. Das ist ja schonmal eine gute Nachricht, wenngleich das nicht heißt, es
gäbe keine Basics (siehe unten). Übrigens: Ulla ist meistens zu zweit draußen. Sie ist zwar die leitende Person, aber sie hat eben Unterstützung, was bei uns in Deutschland (noch) nicht
selbstverständlich ist.
Beispiel: Ulla erzählte mir von einem Spiel, bei dem es um die Grundrechenarten in der Grundschule ging und welches sie im Wald durchführte. Da sollten – vereinfacht erklärt – die Kinder mit Spielgeld verschiedene Dinge kaufen. Sie rannten hin und her zwischen den einzelnen Stationen. Die Waren, die es zu kaufen gab, kamen aus dem Spielzeugfundus der Vorschule, mit der Ulla zusammenarbeitete. Auf die Spielzeuge klebte sie Preisschilder und dann ging es los. Diese Unterrichtsstunde war funktional, enthielt Bewegung und förderte sowohl soziale als auch motorische Fähigkeiten. Außerdem konnte jeder im eigenen Tempo lernen und sich, wenn nötig Hilfe holen, alles ziemlich binnendifferenziert also.
2 | Und das findet jetzt immer draußen statt, oder was?
Es geht laut Ulla auch gar nicht darum, immer rauszugehen und zwanghaft zu versuchen, alle Inhalte in ein Draußenschulkonzept zu pressen. Vielmehr schaut jede Lehrkraft, was der Inhalt der Lerneinheit ist und wo oder wie dieser am besten thematisiert oder erlebt werden kann. Ulla vergleicht diesen Wechsel in-out-in-out / rein und raus (aus dem Schulgebäude) mit dem Ein- und Ausatmen: Beides ist wichtig, beides hat seine Berechtigung und kann voneinander profitieren. Wenn es wirklich ums Unterrichten geht bzw. ums Lernen, dann sollte es die künstliche Trennung zwischen Innen und Außen nicht mehr geben. Denn: Alles hat seinen Platz und seine Zeit.
Beispiel: Ulla unterrichtet gerade in einer Förderschule zum ersten Mal das Fach Ethik. Sie hat sich überlegt, dass ein Fach, das sich mit dem Menschsein, mit Freundschaften, mit Gemeinschaft, Glauben und Zweifeln beschäftigt, natürlich immer wieder draußen stattfinden sollte. Im Winter zusammen am Feuer zu sitzen, durch den Regen zu laufen, gemeinsam in der Natur zu diskutieren, das alles gehört für Ulla in dieses Fach. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist: Ulla wird nächstes Jahr, weil sie um die Dynamik vom Innen und Außen weiß, die Methoden des OT drinnen anwenden und schauen, was dabei herauskommt.
3 | Klingt nach ganz schön viel Arbeit...
Ulla weiß als erfahrene Lehrkraft um die Arbeitsbelastung dieses Berufs. Daher würde sie es begrüßen, wenn alle Lehrkräfte – bereits in der Ausbildung – mit den Grundlagen von OT vertraut gemacht würden. Und zwar wirklich im Sinne von „Vertrauen“, damit sie sich zutrauen, selbst rauszugehen, kreativ zu werden und die Natur (sozusagen als „Pädagogin“) miteinzubeziehen. Ulla sagte, von Lehrkräften sei vor allem ein „Change of thinking“ zu leisten, also ein Denkwandel. Wenn man einmal verstanden hat, wie OT grundsätzlich funktioniert, kann man mit geringem Aufwand (!) sofort draußen unterrichten. Für Ulla ist dieses Denken nach all den Jahren der Praxis selbstverständlich. Mit ihrer Arbeit bereitet sie diesem Denkwandel den Weg.
Beispiel: Ulla erzählt von einer Mathe-Lerneinheit, die sie im Klassenzimmer mit aufwendig gestalteten Arbeitsblättern unterrichten könnte. Doch sie schnappt sich ganz handelsübliche Spielkarten und macht daraus ein Rechenspiel draußen im Wald. Ganz allgemein ist Ulla gegen Materialschlachten und handelt getreu dem Motto „easy, cheap and sustainable“. Kisten für Spiele hat sie zum Beispiel aus der Mensa geholt, weil diese sonst weggeschmissen worden wären, Papier braucht sie oft gar keines, was sie häufiger braucht, wird laminiert, neue Materialien kauft sie selten, weil normalerweise in der Schule genug da ist.
Im Grunde bietet der Wald bzw. die Natur immer Detektivgeschichten, die zu lösen herausfordernd und interessant sein kann. Tatsächlich muss man gar nicht immer alles vorher vorbereiten, wenn man die Haltung hat, dass überall gelernt wird. Dazu gehört aber natürlich einiges an Routine und ein Rollenwandel, der nicht ganz selbstverständlich ist.
4 | Ok und wofür soll das jetzt genau gut sein?
Ulla weiß aus eigener Erfahrung um die stärkenden Eigenschaften von OT – für Schüler*innen und Lehrkräfte. Sie selbst ist an Asthma erkrankt und hat OT als Weg für sich erkannt, um trotz der in Finnland wohl oft schlechten Luftqualität an Schulen als Lehrerin arbeiten zu können. Wenn sie all die positiven Effekte betrachtet, ist ihr eigener gesundheitlicher Vorteil nur ein Argument von ganz vielen, die für mehr OT sprechen.
1 | Sport ist immer mit dabei im Draußenunterricht und das viele schädliche Sitzen ist im Wald so nicht möglich. Stattdessen werden motorische Fähigkeiten nebenbei trainiert, wie es der Natur der Kinder entspricht. Ulla muss ihnen nicht erklären, wie man über Steinblöcke klettert – sie kommen selbst darauf. In der Turnhalle wäre das vermutlich anders. Und: Alle können ihren Bewegungsdrang ausleben, ohne andere dabei zu stören. Jedes Kind kann sich so bewegen, wie es gerade den eigenen Bedürfnissen entspricht. Vorausgesetzt, das Lernsetting ist dementsprechend gestaltet (Stichwort: Grundlagen von OT).
Beispiel: Ein Einkaufsspiel im Wald, um die Grundrechenarten zu trainieren. Jedes Kind entscheidet selbst, in welcher Geschwindigkeit es zwischen den Einkaufsstationen wechselt, ob es sich hinhockt, hinlegt etc.
Ulla hat eine Vergleichsgruppe, die nicht draußen lernt und hat immer wieder gesehen, wie sehr ihre eigene Klasse an Selbstvertrauen, Bewegungsfreude und motorischen Fähigkeiten zugelegt hat.
2 | Wenn man Dinge dort lernt, wo sie vorkommen, begreift man sie viel besser und nachhaltiger.
Beispiel: Wie soll man denn die wirkliche Größe eines Elches einschätzen können, wenn sein Hufabdruck im Buch 2 cm groß ist? Wenn man Dinge dort lernt, wo sie vorkommen, begreift man sie viel besser und nachhaltiger.
3 | Vom spielerischen Lernen profitieren die Kinder und jungen Menschen ihr Leben lang, weil es ihre Phantasie, ihre Kreativität und ihre Selbstwirksamkeit trainiert. Ullas Klassen brauchen nicht ständig ein ready-made-Spiel, um sich zu beschäftigen. Sie können aus Phasen ohne vorgeschriebene Aufgabe kreatives Potenzial schöpfen.
Beispiel: Ullas Kinder haben im Wald einen Stock gefunden, der einem Billardschläger ähnelte. Daraus haben sie dann Waldbillard entwickelt. Immer wieder bewegen sie die Themen, die sie während der Unterrichtszeit gelernt haben, in ihren Pausen im Wald weiter.
4 | Wenn Lernen und Bewegung verknüpft werden, ist das Lernen nachhaltiger und funktioniert besser. Dafür gibt es jede Menge Studien. Warum wird das also nicht viel häufiger gemacht?
5 | Auch für Lehrkräfte hat OT Vorteile. Zunächst einmal profitieren alle vom Naturgenuss. Hinzu kommt, dass die Lärmbelastung für alle Beteiligten geringer ist. Und: Es gibt mehr Platz, das Lernen läuft weniger lehrer*innenzentriert ab. Dadurch haben Lehrkräfte die Möglichkeit, sich mit den einzelnen Kindern intensiver zu beschäftigen, mit ihnen in ein vertrauliches Gespräch zu kommen, sie zu fördern etc.
Beispiel: Wenn sich ein Kind auffällig verhält, würde im Klassenzimmer jeder mitbekommen, wenn die Lehrkraft dieses Kind zur Seite (oder vor die Türe) nimmt und mit ihm spricht. Im Wald kann das ganz beiläufig geschehen, das Kind fühlt sich freier und die Lehrkraft hat einen anderen Zugang zum Kind.
5 | Aber ich unterrichte ja gar kein Bio...
Natürlich leuchtet es ein, naturwissenschaftliche Fächer draußen zu unterrichten. Doch auch für alle (!) anderen Fächer bietet sich OT an.
Beispiel: Ulla hat mit ihrer Klasse im Englischunterricht eine Cocktailparty im Wald inszeniert. Alle Kinder haben Fingerpuppen bekommen und konnten sich eine Person ausdenken, die zu dieser Party geht. So sind sie im Wald umhergelaufen und haben sich gegenseitig kennengelernt. Ganz schüchterne Kinder hatten die Möglichkeit, sich mit sich selbst zu unterhalten. Für Kinder, die Schwierigkeiten haben, vor anderen zu sprechen, gibt es im Wald genug Platz, um unbeobachtet zu üben. Außerdem spricht ja die Fingerpuppe und nicht das Kind, was die Angst vor Fehlern zusätzlich senkt. Letztlich hatten alle Spaß und Freude am Sprechen und konnten entsprechend ihrer Bedürfnisse und Stärken Englisch üben und Ulla konnte dort unterstützen, wo es nötig war.
6 | Wenn eh alles draußen und spielerisch ist, spare ich mir ja die Pausen!
Ulla betont mehrmals, wie wichtig es ist, auch beim OT Pausen einzubauen. Das Prinzip hierbei ist das gleiche wie in der Schule: Die Zeit ist begrenzt, die Orte, an die die Schüler*innen gehen können, sind auch eingegrenzt. In diesem zeitlichen und örtlichen Rahmen können sie all das tun, was sie sonst auch in der Pause tun. Ulla beobachtete, dass die Kinder oftmals das aufgreifen, was sie zuvor gelernt haben und in ihr Spiel integrieren. Es findet also eine (unbewusste) Umwälzung / ein Transfer des Gelernten statt. In dem Waldstück einer Schule, an der Ulla gearbeitet hat, gab es sogar einen Unterstand und Hängematten. Dort konnten sich die Kinder zurückziehen, schlafen oder in Ruhe lesen. Jedes (Grundschul-)Kind soll in jeder ihrer Outdoor Stunden nämlich mindestens zehn Minuten lesen.
7 | Und was mache ich wenn's regnet - oder wenn was passiert??
„Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung.“ Schon mal gehört? Garantiert! Ullas Lösung dafür zeigt ihre zugewandte Haltung: Sie hat immer Ersatzkleidung und -schuhe für Kinder da. Niemand soll bestraft werden, weil Ausrüstung vergessen, verloren oder schlicht noch nicht gekauft wurde. Außerdem ist sie immer mit ihrem Erste-Hilfe-Kit unterwegs, obwohl sie lachend erklärt, es ohnehin sehr selten im Wald gebraucht zu haben. Meistens muss sie nämlich Kinder verarzten, die sich auf dem Schulhof oder in den Gängen verletzt haben – und eben nicht draußen. Zuletzt rät sie noch, den Draußenunterricht versicherungstechnisch abzuklären. Und dann steht dem Erlebnis Outdoor Teaching nichts mehr im Wege.
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