Vier Bereiche, in denen die Krise unserem Schulsystem auf die Sprünge helfen kann
Sei es in Familien, in Krankenhäusern, (nicht nur Fleisch-)Fabriken oder Millionenstädten: Corona reißt auch noch die letzte öffentlichkeits- oder werbewirksame Verkleidung herunter und deckt gnadenlos auf, was niemand sehen wollte, konnte, sollte. Im Bildungsbereich ist das nicht anders. Und siehe da: Der jahrelang gepflegte Prokrastinations-Konjunktivismus wird – endlich – von lautstarken Imperativen abgelöst. Denn: Mittlerweile wurden die Versäumnisse im Schulsystem, positiv formuliert: die Herausforderungen – erkannt, bzw. wurde sich dazu be-kannt.
Aber: Wird auch etwas davon umgesetzt? Ein kritisch-ermutigender Blick.
Was Eltern bemängeln und womit Schüler*innen überfordert sind, haben Prof. Dr. Anke Langner (TU Dresden) und Prof. Dr. Axel Plünnecke (Institut der deutschen Wirtschaft (IW)) jüngst in einem Bericht bestätigt: Das durch Corona geforderte selbstbestimmte) Lernformat verlangt von Schüler*innen Kompetenzen, die sie in der Schule meist nicht erlangt haben: Selbststeuerung, Zeitmanagement und Verantwortungsübernahme, Priorisierung der Aufgaben etc.“. Blöd, weil genau diese nötig sein werden, um sich in einer schnell wandelnden, immer tiefer miteinander verwachsenden Welt wie unserer zurechtzufinden.
Stattdessen wird immer noch vorwiegend Wissen vermittelt, wird Lernen lehrseits gedacht. Einige Eltern waren – gelinde gesagt – überrascht, wie unselbständig ihr Kind lernt und sahen sich durch Versprechen von „selbstbestimmtem Lernen“ an der Schule ihres Kindes getäuscht.
Zudem fordert Prof. Klaus Zierer, die Krise zum Anlass zu nehmen, Bildung neu zu denken, den Lehrplan zu „entrümpeln“ und Bildung „global, interdisziplinär und ethisch“ zu machen. Prof. Dr. Michael Schratz sieht im Coronavirus die Möglichkeit zur „wirksamsten Fortbildungsmaßnahme des Jahrhunderts“, wenn „dadurch das Schuljahr 2020/21 im Herbst damit beginnt, dass nicht Lernfragen den Unterricht bestimmen, sondern jene, die die Bewältigung der entstehenden Zukunft erfordert.“
Eigentlich wird also nur laut, wovon Bildungspionier*innen sowieso schon lange sprechen. Gefühlt hatten sie noch nie vorher mehr recht.
Im April 2020 wurde von drei Wissenschaftler*innen die Petition „Güterabwägung in der Krise: Chancen eröffnen für neue Bildungsmöglichkeiten“ ins Leben gerufen. Mittlerweile hat sie immerhin Eingang diverse Zeitungen, u. a. die ZEIT sowie 5000 Unterzeichnende gefunden. „Nur“, muss man eigentlich trotzig sagen. Wie auch immer: Die Autor*innen warben dafür, in der Krise in bzw. durch Schulen Gemeinschaftserfahrungen zu stärken und weg vom „konkurrenzorientierten Kompetenzerwerb“ zu kommen.
In der Tat: Kleinere Gruppen, mehr Räume, Kontaktbeschränkungen, Ausfall zahlreicher Lehrkräfte – all diesen Herausforderungen könnte jetzt mit dem Einbeziehen eines größeren Gesellschaftsbereichs begegnet werden. Freistehende Räume könnten genutzt werden, Familien könnten „zivilgesellschaftlich organisierte Lernzirkel“ anbieten, um Kinder psychosozial zu integrieren, wie es im Petitionstext heißt. Es soll also gerade nicht um stumpfsinnigen Wissenserwerb gehen, sondern stattdessen „soziales Lernen und Bildungsangebote in der Logik von Ferienschulen“ gefördert werden, inklusive kultureller Angebote, die die „psychosoziale Stabilität wiederherstellen“. Nicht um social distancing, sondern um physical distancing geht es.
Eine Schule, eine Bildung also, die wirklich das Kindeswohl im Blick hat und dafür die Perspektive der Salutogenese wählt... So erscheint es nur konsequent, dass im Ideenpool der Petition u. a. ein flexibler, zumindest aber späterer Schulbeginn vorgeschlagen wird, weil das dem Rhythmus der meisten Kinder während des Lock-Downs entspricht.
Und wenn Klassenfahrten, Austausche, Abschlussfahrten, Schullandheime weiterhin nicht erlaubt sind, müssen eben Kooperationen mit außerschulischen Partnern sowie das Nutzen außerschulischer Lernorte verstärkt werden.
Es gibt da einen engagierten Anwalt aus Eschwege, Andreas Vogt, der sich seit nunmehr 12 Jahren für Familien einsetzt, deren Kinder von der Schulpflicht befreit werden wollen – aus guten Gründen. Weil ich aus eigener Erfahrung weiß, dass es zwar möglich, aber – egal wie berechtigt – sehr anstrengend ist, eine/n Schüler*in zeitweise von der Schulpflicht zu befreien, konnte ich – wie viele andere – kaum fassen, dass auf einmal alle Schulen zu sind: von heute auf morgen.
So ist es wenig überraschend, dass das heiße Thema „Schulpflicht“ daher (nicht zuletzt in diversen Petitionen) wieder auf den Tisch kommt. Wir haben gesehen: Es gibt Kinder, denen ein Fernbleiben der Schule guttut! Andere brauchen und vermissen die Schule. Wieder andere werden, was mehrmals wissenschaftlich untersucht und bestätigt wurde – regelrecht abgehängt und in ihren Lernprozessen gelähmt, wenn sie keine Möglichkeit haben, zur Schule zu gehen. Wir haben gesehen: Chancengleichheit hätten wir gerne, haben wir aber nicht.
Wir haben aber auch gesehen: Für manchen Lernstoff gibt es bereits genügend enorm kreative und außerordentlich gut ausgearbeitete Online-Materialien: Videos, Blogs, Artikel usw. Wenn wir uns vernetzen, können wir Ressourcen schonen. Es muss nicht jede Lehrkraft sein/ihr eigenes Süppchen kochen.
Die Rolle der Lehrkraft könnte sich also ändern – die Rolle der Schüler*innen auch, zumindest, wenn wir wollen. Ein neues Modell von Schule, das sich auf kreative und mutige Weise den Bedürfnissen und Potenzialen jedes jungen Menschen anpasst, könnte uns dabei helfen – in der Krise und vor allem darüber hinaus.
Bereits im Mai wurde der Digitalpakt verabschiedet, beschleunigt durch den akuten Bedarf. Gut, sagen die einen. Aber, sagen die anderen. Schulen mangelt es an Personal und – vielleicht noch schlimmer – an Kompetenz, sich um eine sinnvolle (!) Digitalisierung zu kümmern. Später wird es ihnen an Support mangeln, an Unternehmen, die die IT-Vorhaben realisieren, an schulischen Administrator*innen etc. – das ist jetzt schon klar.
Es braucht (bzw. hätte schon vor langem gebraucht) Fortbildungsangebote für Schulen – und die Bereitschaft, sich fortzubilden. Außerdem braucht es Wissen und Erfahrungswerte darüber, wie digitale Lösungen überhaupt didaktisch sinnvoll eingesetzt werden können – mit einer E-Book-Klasse ist es nicht getan... Vorbildlich gehen Bundesländer voran, deren Konzept auf Synergieeffekte setzt, wo an Cloud-Lösungen gearbeitet, Materialien geteilt, Erfahrungen ausgetauscht werden – all das, was Digitalisierung ja vereinfacht bzw. ermöglicht.
Und auch hier fällt wieder auf, wie groß in Deutschland der Einfluss sozialer Gegebenheiten auf Bildungserfolge ist: Wer kein passendes digitales Endgerät hat, kann auch keine Lernplattform nutzen. Kreative, dem Allgemeinwohl dienende Lösungen, wie die des Leipziger Vereins Hardware for Future, sind also vonnöten: Dort werden gebrauchte IT-Geräte gesammelt, in Stand gesetzt und kostenlos an sozial schwächere Haushalte verteilt – ein gutes Beispiel mit hoffentlich vielen Nachahmer*innen.
Es braucht regionale Initiativen und ein gutes Maß an Freiheit und Unterstützung für Schulen, um langfristig ein durchdachtes digitales Profil zu entwickeln.
Also?
Weltweit bereiten sich Schulen auf ein neues und vor allem neu-artiges Schuljahr 20/21 vor. Sie wissen: Es sind jetzt wie nie zuvor Mut und Kreativität gefragt, wenn sie ihrem Bildungsauftrag nachkommen wollen. Wollen wir auch?
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