Es ist ja so: Eine Schule ist ein System mit vielen Regeln, Strukturen, Vorgaben, Verordnungen, Rahmen, Plänen, Grenzen. Damit es auch funktioniert, klar.
Und darin sind Menschen: primär Lernende, primär Lehrende. [Wer übrigens zu welcher Gruppe gehört, ist nicht klar auszumachen. Auch wenn das für viele gar keine Frage ist, so weiß ich zumindest aus meinem Alltag zu berichten, dass ich an so manchem Schultag eventuell mehr von meinen Schüler*innen gelernt habe als andersherum. Und das ist weder schlecht, noch soll es heißen, dass mein Unterricht unnütz ist. Es ist einfach so und darf auch mal so sein.]
Aber zurück zum Thema: Primär Lehrende sprechen gerne über primär Lernende und zu ihren (manchmal leidvollen) Aufgaben gehört auch das Bewerten: Wer ist, lernt oder verhält sich gut, mustergültig, vorbildlich – und wer nicht?
Manche Schulen können (und/oder wollen) die Kinder in der Kategorie „…und wer nicht?“ an andere Schulen weiterschieben, andere Schulen können (und/oder wollen) das nicht. So oder so: Es gibt sie, die Kinder dieser Kategorie – wo auch immer.
Die Unpassenden
Jetzt ist wieder die Zeit der Schulgespräche: Eltern, Schüler*innen, Lehrkräfte an einem Tisch, alle mit mehr oder weniger laut klopfendem Herzen und nicht selten sorgenvoller Miene: Der eine kann sich nicht konzentrieren, einer ist immer laut, der nächste hasst Schule, die andere langweilt sich täglich, einer überschätzt sich, ein anderer denkt, er könne gar nichts – und so weiter und so fort.
Man findet, hört man gut zu und fragt nach, allerhand Interessantes heraus über das, was sich hinter dem Schüler oder der Schülerin verbirgt. Und man kann, wenn man will, danach einiges besser verstehen als vorher. Es ist auch eine Chance, selbst kritischer zu denken, nie Hinterfragtes zu hinterfragen.
Da ist das Kind, das nachts aktiver ist als tagsüber. In einer normalen Schule hat es schlichtweg keine Chance: Jeder muss früh aufstehen, Gleitzeit gibt es weder für Schüler*innen noch für Lehrkräfte. Ende der Diskussion. Und die morgendliche schlechte Laune macht sich natürlich auch nicht gut – Stichwort Lern-, Arbeits- und Sozialverhalten.
Da ist das Kind, das zwölf Jahre alt ist, aber Dinge lernen will, die erst in der 10. Klasse auf dem Plan stehen. Pech gehabt. Googeln kann man ja auch nach der Schule noch. Selektion funktioniert zumindest weitgehend nicht nach Können, sondern nach Zahlen. Dumm gelaufen.
Da ist das Kind, das nicht – ja: noch nie – im Sitzen, durch Abschreiben, durch Zuhören, sondern nur durch Erleben, durch Machen, durch Ausprobieren und Anwenden lernen kann bzw. konnte. Tja. Dann sitzt es trotzdem (nicht), schreibt trotzdem (nicht) ab, hört trotzdem (nicht) zu. Hauptsache, es ist in der Schule.
Und die Angepassten
In einem m. E. sehr hörenswerten SWR1-Leute-Interview mit dem österreichischen Filmemacher Erwin Wagenhofer geht es neben dem Kinostart seines neuen Films auch um die Beschränktheit des Bildungssystems. Nicht verwunderlich, immerhin stammt von Wagenhofer der Film „Alphabet“ (2013), in dem die Konkurrenz im Bildungssystem und das Bildungssystem insgesamt kritisch beleuchtet werden.
Aber zurück zum Interview, in dem Wagenhofer sich wundert, weshalb der Bezeichnung „Musterschüler“ immer noch etwas so Vorbildliches, Positives, Wünschenswertes anhaftet. Ein Musterschüler ist ein Schüler, der ein Muster übernimmt, sagt er. Nicht mehr und nicht weniger.
Nicht mehr.
Und nicht weniger.
Vor allem aber: nicht mehr. Und alle, die das nicht tun, nicht tun können, nicht tun wollen, sind deswegen nicht per se schlecht. Sie sind anders. Sie passen nicht in etwas, das für sie vorgesehen ist, nicht aber für sie gemacht wurde.
Einladung zum größer Denken
Vielleicht zeigen sie mit ihrer Rebellion, dass die Muster, die sie ausfüllen sollten, veraltet sind, dass sie unbrauchbar sind? Vielleicht sind sie die Mensch gewordenen rot blinkenden Signalleuchten an den Stellen, an denen etwas im System kaputt gegangen ist? Vielleicht sind sie unsere (lauthals schreienden, um sich schlagenden, wütenden, abgeschlagenen, frustrierten …) Wegweiser, Hinweisschilder, Zukunftsboten?
… Reframing.
Auf Schule bezogen und um beim Bild zu bleiben, hieße das, wenn das nächste Mal der Sand im Getriebe knarzt, dann könnte man sich fragen, ob man vielleicht einfach auf dem falschen Weg fährt oder ob es undichte Stellen im System gibt – und nicht sofort auf den Sand schimpfen.
Und man könnte sich fragen, wie man darauf so reagieren kann, dass der Sand im Getriebe – wo er stört – zum Sand am Strand werden kann – wo er gebraucht wird.
Denn: Widerstand ist Kooperation
Nein, es geht nicht darum, allen Querulant*innen freien Lauf zu lassen! Natürlich ist es wichtig zu lernen, sich Dingen anzunehmen, die keinen Spaß machen, aber trotzdem unabdinglich sind oder Regeln einzuhalten, die für die Gemeinschaft von Nutzen sind, auch wenn man sie selbst nicht logisch findet.
Es geht um ein bisschen mehr Toleranz und ein bisschen mehr Wertschätzung für Widerstand. Ja, auch wenn es nervt.
Vom US-amerikanischen Psychotherapeuten Steve de Shazer stammt die Aussage, jede Reaktion sei eine Form von Kooperation – auch Widerstand. Also: Wie kooperieren wir auf der anderen Seite mit dieser Form von Kooperation? Was bzw. welche Umgebung, welchen Ort braucht der Sand, um sich nützlich, gut, aufgehoben zu fühlen?
Epilog
Und ich? Leiste ich Widerstand? Würde ich mich das überhaupt trauen? Widerstehe ich der Versuchung, mich in ein vorgegebenes Muster pressen zu lassen, wie es alle machen oder wie es bequem ist? (Warum) verzichte ich auf Widerstand?
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