„Wer die Schönheit der Natur betrachtet,
findet Kraftreserven, die ihn durchs ganze Leben tragen.“
Rachel Carson, amerikanische Ökologin
Eigentlich müsste man viel mehr raus aus der Schule, aber - …
Einer, der dem „aber“ konsequent trotzt, einer, der den Konjunktiv hinter sich gelassen und sich nicht mehr mit den „eigentlichs“ abgibt, ist Jakob von Au. Der Lehrer aus Heidelberg ist ein Pionier: Unter anderem durch ihn kam das Konzept der „Outdoor Education“ nach Deutschland, genau genommen nach Heidelberg. Nach einem Studienjahr in Neuseeland, wo von Au mit Outdoor Education in Berührung kam und völlig fasziniert zurückkehrte, hatte er das Ziel, seine Begeisterung, Erfahrungen und Visionen von offeneren Schulen in das deutsche Schulsystem zu bringen. An einer Schule hat er das auch umgesetzt: Das war und ist das Englische Institut in Heidelberg, wo er heute als Lehrer im siebten Jahr das „Heidelberger Waldprojekt“ durchführt.
Angetrieben war er vom Wunsch, Abwechslung in die langen, kognitiv dominierten, oft unbewegten Lernzeiten im Klassenzimmer zu bringen: Waldzeiten, in denen interdisziplinär, praktisch und mit vollem Körper- und Sinneseinsatz gearbeitet wurde, waren die Idee. Möglich war die Umsetzung letztlich dank einer kooperativen Schulleitung und der Partnerschaft mit dem Forst- und Umweltamt Heidelberg. Auch fand er zu Beginn gleich eine begeisterte Lehrkraft, die bereit war, das Projekt mitzutragen. Uta Gade beispielsweise war von Anfang an dabei und wirkte an mehreren Publikationen von Jakob von Au mit. Wie sich die Dinge eben manchmal entwickeln, ergab sich für Jakob von Au aus seinem Waldprojekt auch die Möglichkeit, an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg darüber zu promovieren.
Im Juni haben Jakob von Au und Uta Gade den mit 25.000 Euro dotierten Lehrerpreis "Projekte zur Förderung von Bildung für nachhaltige Entwicklung" von der Stiftung Kinderland entgegengenommen und wurden so auch offiziell in ihrem innovativen Denken und Handeln bestätigt.
Das Projekt
Einen ganzen Schultag pro Woche verbringen die Fünftklässler*innen draußen, die Stunden hierfür kommen von BNT (3 Stunden), Geographie (2 Stunden) und Sport (eine Stunde). Auch wenn stundenplantechnisch nur die drei Fächer beteiligt sind, ist das Ganze in Wirklichkeit viel umfassender. So werden beispielsweise Kunstlehrkräfte eingeladen, um mit den jungen Menschen gemeinsam Landart zu machen oder es kommen Gäste aus den ganz anderen Bereichen und erweitern die Naturerfahrungen der Kinder mit ihrem Blick auf die Dinge.
Immer zwei Lehrkräfte begleiten die Klassen beim Waldtag, sodass ein Eingehen auf die Bedürfnisse einzelner Kinder und ein genaues Hinschauen auf ihr Handeln ermöglicht wird.
Noch Fragen? Die zusammengefassten Antworten vom Projektinitiator gibt es weiter unten.
Grundsätzliches
Was genau ist Outdoor Education?
Wie Jakob von Au in seiner Dissertation zitiert, meint Outdoor Education „jede Form des organisierten Lernens im Freien“ und begreift sich „als Alternative zu kognitiv dominierten Lernformen“.
Abb.: The range and scope of outdoor education. Higgins and Loynes in: Higgins and Nicol (2002)
Higgins und Nicol verdeutlichen in der Grafik die Vielgestaltigkeit des Konzeptes als Einheit von Outdoor Aktivitäten, Umweltbildung und Persönlichkeitsentwicklung/Sozialtraining. Diese Dreiteilung bietet viele Möglichkeiten zur unterschiedlichen Schwerpunktsetzung und erklärt die Vielfalt der Umsetzung von „Outdoor Education“ in verschiedenen Ländern.
Was ist der Mehrwert von Outdoor Education?
Wie fühlt man sich nach einem Tag in der Natur im Vergleich zu einem Tag am Schreibtisch?
Wie gut lernt man beim praktischen Tun im Vergleich zum kognitiven Arbeiten?
Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte: Es geht nicht darum, alles Althergebrachte in Zweifel zu ziehen. Es geht darum, dieses zu ergänzen: mit mehr Bewegung, mehr Natur, mehr Offenheit, mehr Praxis, mehr Handarbeit. Der Gewinn, den Schulen dadurch erzielen, wurde in zahlreichen internationalen Studien mehrfach bestätigt.
Umsetzung in der Praxis
Werden Schüler*innen beim Waldprojekt bewertet?
Ja. Leistungsüberprüfungen sind beim Waldprojekt vorgeschrieben, die Lehrkräfte denken sich aber verschiedene Überprüfungsformate aus, die an das ganz andere Arbeiten angepasst sind. Erwähnenswert ist, dass eine solche offenere Unterrichtssituation vorteilige Effekte auf die Beobachtungskompetenz der Lehrkraft hat, wie Jakob von Au erfahren hat. Er bekomme ein schärferes Bild der Leistungen der Kinder, könne eher erkennen, wie Kinder ticken und was ihr Leistungsniveau ist, gerade weil es draußen eben nicht nur ums Zuhören und Stillsitzen geht.
Gelingt Differenzierung bei Outdoor Education?
Absolut. Jakob von Au hat die Erfahrung gemacht, dass Lernen mit sehr heterogenen Gruppen draußen oft besser als drinnen funktioniert, auch gelingt ihm persönlich draußen die Differenzierung besser. Er meint, eine gute Lernumgebung außerhalb des Klassenzimmers biete Lerngelegenheiten für viele Leistungsniveaus.
Inwiefern ist das Projekt einer Privatschule überhaupt auf staatliche Schulen übertragbar?
Selbstverständlich sind die (finanziellen, personellen, organisatorischen…) Ressourcen an staatlichen Schulen andere. Wer aber genau hinschaut und sich den Fragen mit etwas Kreativität nähert, wird auch hier gute Wege finden, meint von Au. Beispielsweise könnten Aufsichtsprobleme von engagierten Eltern gelöst werden oder die Teamteaching-Struktur nicht beibehalten werden. Sie ist zwar vorteilhaft für das Lernsetting, aber nicht unverzichtbar.
Wie gelingt es, als Schule einen geeigneten außerschulischen Partner für ein solches Projekt zu finden?
Generell, so Jakob von Au, sei er überall mit seinen Anfragen auf offene Arme gestoßen. Was viele nicht wissen: Die Forst- und Umweltämter in Deutschland haben – wie übrigens viele andere Institutionen auch – einen Bildungsauftrag und sind nicht selten froh, wenn Schulen oder Lehrkräfte auf sie zukommen. Nichtsdestotrotz hängt das auch immer mit der Kommune zusammen, in der sich die Schule befindet. Proaktiv zu schauen, was es gibt, ist in jedem Fall ein vielversprechender Weg, meint Jakob von Au.
Wichtig ist es dann, sich offizielle Genehmigungen einzuholen, um im Wald unterwegs sein zu können. So mussten in Heidelberg Verträge mit Jägern und Forstämtern geschlossen werden, damit sich niemand in die Quere kommt.
Eignet sich das Konzept „Outdoor Education“ auch für die „Freidays“?
Im Grunde spricht nichts dagegen, jedoch legt von Au Wert auf die Kontinuität des Vorhabens: Von der Regelmäßigkeit und der transparenten Struktur profitieren alle Akteure: Schüler*innen, Kollegium, Eltern, Partner. Zudem betont er, dass bei Outdoor Education die Lernumgebung zugleich Teil des Lerngegenstandes sein sollte, das heißt, draußen Englischvokabeln zu lernen, wäre kein Beispiel für Outdoor Education. Die Vielfalt der Lernumgebungen außerhalb des Klassenzimmers, die bei den „Freidays“ genutzt werden kann, bietet sich für die verschiedensten Themen an, weshalb eine Verbindung davon mit Outdoor Education durchaus sinnvoll erscheint.
Outdoor Education weltweit
Wo gibt es viel „Outdoor Education“?
Wer sich für Outdoor Education interessiert, sollte nach Neuseeland, Australien, Skandinavische Länder, Großbritannien, USA, Kanada schauen. Jedes Land bzw. jede Schule legt hierbei andere Schwerpunkte, weshalb Jakob von Au auch vor Pauschalisierungen warnt.
Er hat jedoch beobachtet, dass manche Schulen in Neuseeland den erlebnispädagogisch-sportlichen Aspekt betonen, während es in Dänemark eher um ein praktisches Erwerben der theoretischen Lerninhalte draußen in der Natur geht. Insofern überschneidet sich das dänische Modell hier mit dem deutschen
Modell.
Interessanterweise passt das jeweilige Konzept von „Outdoor Education“ zu den Problemen und Herausforderungen der jeweiligen Schule bzw. Region. Ein Beispiel aus Schottland verdeutlicht dies: Manche Schulen dort haben sich dem zunehmenden Problem von Adipositas auf die Weise genähert, dass deren Outdoor Education-Stunden einen gesundheitlichen Aspekt betonen.
Und in Deutschland??
Obwohl alle Ergebnisse dafürsprechen, gibt es immer noch kaum Angebote dieser Art an deutschen Schulen. Warum?
Jakob von Au sieht die Ursache darin in verschiedenen Bereichen:
- Unwissen: Grundsätzlich wissen Schulen in der Regel wenig über Outdoor Education
- Leistungsdruck: Gerade an Gymnasien erhöht sich der Leistungsdruck auf die Schüler*innen. Wissensvermittlung steht im Mittelpunkt, standardisierte Messungen häufen sich. Da bleibt (scheinbar) wenig Raum für anderes.
- Skepsis und Arbeitsbelastung: Eine weitere Hürde stellt sicher die Skepsis dar, die sich gegen die organisatorischen Herausforderungen richtet, die ein solches Projekt mit sich bringt. Auch in Heidelberg musste diese Hürde genommen werden. Das war zu erwarten und ist wohl auch verständlich, weil Lehrerkollegien oft überarbeitet sind und im durchgetakteten Alltag festhängen. Das allerdings, so deutet von Au an, sollte nicht zur permanenten Ausrede für Stillstand werden, sonst ändert sich nie etwas – vor allem nicht zum Guten. Jetzt nämlich, einige Jahre später, steht fest, dass viele Ängste unbegründet waren: Die Verschiebungen im Stundenplan sind unmerklich, der negative Einfluss auf die Organisation einer Schule kann nicht bestätigt werden und was die vorher mitunter – wer kennt es nicht – komplizierte Raumsituation angeht, so wurde diese durch das Projekt sogar deutlich entspannt. Jakob von Au möchte daher Mut machen, Schule zu gestalten, weil viel gewonnen werden kann. Auch wenn Veränderung anstrengend ist: Sie lohnt sich.
Wieso wird die ohnehin dünne (Wald-)Luft in Deutschland nach oben hin immer noch dünner?
In der Tat gibt es in manchen anderen Ländern eine Vielzahl von Outdoor-Education-Projekten. Diese sind nicht selten sogar in den Bildungsplänen vorgeschrieben. In Deutschland konzentrieren sich solche Beispiele – abgesehen von alternativen Schulen – vor allem auf den Kindergarten- und Grundschulbereich und werden im Sekundarbereich erheblich seltener.
Jakob von Au spekuliert, dass dies mit der für Deutschland typischen strikten Trennung von Grundschule und weiterführender Schule zu tun haben könnte. Diese ist in anderen Ländern oftmals nicht so stark ausgeprägt. So sind die naturnahen Formate – Waldkindergarten, Naturpädagogik, Waldklassenzimmer – mit Ende der Kindergarten- oder Grundschulzeit abgeschlossen, während in anderen Ländern derartige Elemente eher weitergetragen werden.
Auch gibt es in Deutschland vergleichsweise wenig Gemeinschafts-/Gesamtschulen. Diese müssen mit äußerst heterogenen Gruppensituationen zurechtkommen und haben daher einen (noch) höheren Bedarf an vielfältigen Lernumgebungen, weil diese wiederum Differenzierung erleichtern. In anderen Ländern sind solche Schulformen viel verbreiteter, was möglicherweise auch die höhere Zahl an Outdoor-Education-Projekten erklärt.
Zusätzlich könnte die mit zunehmendem Alter – vorausgesetzte – mangelnde Begeisterung älterer Schüler*innen eine abschreckende Wirkung haben. Die Frage ist nur, ob Mittelstufenschüler*innen wirklich keine Lust hätten, praktischer, lebensnäher draußen zu lernen. Vielleicht wäre nur die Anfangshürde höher?
Fazit
Wo ein Wille ist, ist ein (Wald-)Weg. Und: Fragen hilft. Ein Konjunktiv eher weniger.
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