· 

Schule draußen: Projekt SchulHof der Eduard-Spranger-Schule in Reutlingen

Bericht über ein gelungenes Beispiel für Lernen durch Erfahrung

 

An einem Montag im Sommer, es bleiben nurmehr ein paar Wochen bis zu den Sommerferien, treffe ich Irene Mutschler wie vereinbart auf dem Schulhof der Gemeinschaftsschule in Reutlingen. Trubelig geht es zu, Bälle rollen, Kinder spielen, zanken, rennen; aus verschiedenen Ecken tönt es „Frau Mutschler, Frau Mutschler“. Nichts lässt darauf schließen, dass Irene Mutschler anders als die anderen Lehrkräfte ist, ihre Arbeit seit einigen Jahren kaum mehr mit Klassenzimmern, Schultischen und Kreidestaub zu tun hat.

Diese Nische hat sie sich bewusst geschaffen: Mit einem Team aus visionären, engagierten Lehrkräften und einer überzeugten Schulleitung gelang es der Schule vor acht Jahren, das SchulHof-Projekt  am Listhof ins Leben zu rufen. Es ist ein großartiges Beispiel dafür, wie die Unterrichtsmethode „Lernen durch Engagement“ (LdE; Seifert et al., 2012) Eingang in eine staatliche Schule gefunden hat.


Das Projekt:

Die Fünft- und Sechstklässer*innen verbringen in Kleingruppen jeweils einen Monat lang ein- bis zweimal pro Schuljahr den Großteil ihres Schultages auf dem Listhof, einem Umweltbildungszentrum unweit der Schule. Sie fahren selbständig mit eigenen oder Schulfahrrädern hin, essen dort zusammen und kümmern sich in wechselnder Besetzung um die Tiere und den Garten auf dem Hof. Betreut werden sie von zwei sich abwechselnden Lehrkräften, Angestellten des Listhofs und einem Rentner, der für das Projekt an der Schule angestellt wurde. Finanziert wird das Ganze durch Spenden, den Freundeskreis der Eduard-Spranger-Schule, Preisgelder von Projektwettbewerben und nicht zuletzt durch den Verkauf der Produkte vom Listhof, die von den Kindern hergestellt wurden.


Muss sich Lernen wie Arbeit anfühlen?

 

Ich darf die zehn Schüler*innen einen Tag lang begleiten, schaue ihnen beim Arbeiten über die Schulter und tausche mich mit vielen Beteiligten aus. Irene Mutschler hat den Überblick und doch immer noch das Auge für Details. Schon beim Radeln achtet sie darauf, dass sich alle sicher fühlen und jeder während der Listhof-Phase einmal die Kolonne anführen darf. Denn eines ist ihr wichtig: Gestärkt sollen die Kinder aus der Zeit am Listhof herausgehen.

Am Hof angekommen, trifft man sich in einer kleinen, gemütlichen Holzhütte, die alles gleichzeitig ist: Aufenthaltsraum, Unterschlupf, Umkleidekabine, Klassenzimmer, Arbeitsraum. Dort ziehen sich die Kinder um und schwärmen wenig später in Zweier- und Dreierteams in alle Richtungen aus, wo sie, wie zuvor besprochen, ihren Dienst tun – eigenverantwortlich, aber nicht allein gelassen. Es überrascht mich, dass sich niemand über die alles andere als körperbetonte Arbeitskleidung beschwert. Auf mich wirkt es, als fühlten sich die jungen Menschen sogar wohl in ihrer Listhof-Haut, denn egal, welche Markenschriftzüge auf ihren Pullis und Schuhen normalerweise prangen – oder auch nicht: Hier sind alle (sichtbar) gleich.

Auf die Frage hin, wo die Kinder lieber seien, in der Schule oder auf dem Hof, antworten sie einhellig „Ich bin viel lieber hier! In der Schule muss man arbeiten.“ Diese Antwort spiegelt die Genialität des Projekts wider: Während des ganzen Tages, an dem ich die Kinder begleiten durfte, haben alle gearbeitet – im Gemüsegarten, im Gehege der Esel, im und um den Hühnerstall, im Krabbeltierhaus, in der Küche, im Kräuterbeet. Offenbar hat das nur keines der Listhofkinder so wirklich bemerkt!

 


Lass es mich tun – und ich verstehe

Genauso verhält es sich mit dem Lernen: Seltsam, dass Lernen für viele Menschen immer noch etwas ist, das, um sinnvoll zu sein, an einem Tisch in einem Klassenzimmer innerhalb der Schule im Sitzen stattzufinden hat. Dabei fehlt gerade diesem Lernen oftmals (erwiesenermaßen) die Nachhaltigkeit, erschließt sich einigen Kindern oft nicht der Sinn, erfüllt es sie nicht mit Befriedigung. Am außerschulischen Lernort Listhof läuft das Lernen praxisnah und beiläufig ab und macht genau deswegen so großen Spaß – es ist gut getarnt!

Ein Beispiel: Als zwei Jungs am Hühnerstall vorbeikommen, bemerkt einer der beiden, dass die automatische Klappe, die den Stall abends verschließen soll, einen Defekt hat. Das Problem ist real: Wird die Klappe nicht repariert, könnten die Tiere einem Fuchs zum Opfer fallen, das wissen die Kinder. Gemeinsam mit Herrn Erichsen, dem Idealbild eines rüstigen Rentners, setzen sie sofort die Reparatur in Gange. Herr Erichsen weiß aus Erfahrung und weil er die Klappe selbst gebaut hat, was jetzt zu tun ist. Statt aber die Lösung vorzugeben, fragt er die Jungs, was sie jetzt tun würden. Und so nähern sich die drei langsam dem Problem und sind stolz, als sie mit Bohrer, Schraubenzieher, Handy, ein wenig Mathe, Technik, Physik und Gehirnschmalz die Klappe wieder zum Funktionieren gebracht haben.

 


Alt und Jung ergänzt sich wunderbar

Das ist nur ein Beispiel dafür, wie sehr das Projekt von den Menschen lebt, die sich darin engagieren. Und es zeigt, wie wertvoll der Austausch und die Zusammenarbeit mit älteren, lebenserfahrenen Menschen für beide Seiten ist.

Einmal fragt ein Schüler Herrn Erichsen, ob er beim Tomatenpflanzen Musik hören dürfe. Dieser zeigt nur auf sein Hörgerät, dann wird diskutiert, inwiefern das ständige Musikhören eigentlich schädlich ist – seine Frage hat der Junge dabei längst vergessen.

Später ergibt es sich, dass die beiden Jungs eine Entfernung ohne Messhilfe messen müssen. Herr Erichsen misst mit seinen ein-Meter-Schritten die Strecke ab – nichts Neues. Dann zeigen die Kinder ihm mit ihren Methoden, wie man eine Strecke ungefähr messen kann: Sie holen ihre Bluetooth-Kopfhörer heraus, die nach zehn Metern Reichweite einen Piepston von sich geben, um auf den Verbindungsabbruch aufmerksam zu machen. Die Jungs verbinden Kopfhörer und Handy und laufen die Strecke langsam ab. Als sie den Piepston hören, wissen sie, wie lang in etwa zehn Meter sind – Herr Erichsen staunt. Alle haben etwas gelernt, beiläufig.

 


Schmeckt auch gut! – oder: mit allen Sinnen lernen

Nach der ersten Schicht, in der die Kinder die Tiere versorgen, essen alle zusammen zu Mittag. Dieses Ritual ist längst nicht mehr selbstverständlich für die Kinder, weshalb den Projektinitiator*innen dieser Punkt sehr wichtig war und ist. Das Essen stammt aus der Schulmensa. Selbstverständlich kommt auch die Ernte vom Listhof auf den Tisch. Heute gibt es den frisch geernteten Kohlrabi aus den Hochbeeten. „Oh mein Gott, schmeckt das geil! Nochmal!“, freut sich gerade der Junge, den man vorschnell etwa mit Softdrinks und Gummibärchen in Verbindungen bringen würde: Es war sein erster Kohlrabi. Zum Nachtisch gibt es Nektarinen von der Tafel in Reutlingen. Irene Mutschler erklärt das Prinzip der Tafel und die Kinder staunen nicht schlecht, wie gut Obst schmeckt, das weggeworfen werden sollte.

In der zweiten Schicht nach dem Mittagessen pflücken ein paar Kinder im Kräutergarten Kräuter für das Kräutersalz, das sie herstellen wollen. Mal begeistert, mal angeekelt, aber immer neugierig schnuppern sie sich durch die Beete. Ein Junge berichtet, wie sich seine Familie manchmal die Eier vom Listhof gönnt und seine kleine Schwester dabei das Mini-Ei der Seidenhühner bekommt. „Keine Eier schmecken so gut. Im Supermarkt findest du sowas nicht“, bemerkt er. Von seinem Kumpel wird er „Eierprofi“ genannt, weil er die Hühner so gerne mag und auch noch das letzte versteckte Ei findet, manchmal sogar das Huhn zuordnen kann, von dem es stammt. Dem „Eierprofi“ ist längst nicht mehr egal, woher sein Frühstücksei kommt.

Am Ende nehmen die Kinder die noch warmen Gläser mit Nektarinenmarmelade mit, die sie zuvor hergestellt haben – das ist gelebte Nachhaltigkeit.

 


Voller Sinn = leeres Heft?

Sind das jetzt Kompetenzen, die Kinder benötigen? Eier finden? Tiere füttern? Kräuter ernten? Tomaten pflanzen? Mit der Bohrmaschine umgehen? Rosmarin von Liebstöckel unterscheiden?

Nun ja, es ist eben wesentlich mehr. Die Kinder erfahren sich als selbstwirksam, sie werden gebraucht, sie erfahren Bestätigung – von den Tieren, der Natur, ihren Mitschüler*innen, den Betreuungspersonen. Sie lernen fürs Leben, lernen sich kennen, lernen, mit anderen zusammenzuarbeiten, sie bauen eine wertschätzende Beziehung zur Natur und Umwelt auf, sie sind draußen, sie bewegen sich, sie leben im Moment, sie dürfen in ihrer Arbeit versinken, sie tun etwas (für sie und andere) Bedeutungsvolles, sie kommen mit den Folgen ihres Handelns in Kontakt, sie lernen eine andere Welt kennen, sie müssen mit Menschen arbeiten, die vielleicht ganz anders sind als sie und die sie nicht wie Schüler*innen behandeln, sie müssen flexibel sein, sich dem Wetter anpassen, sie lernen, mit Tieren und Werkzeugen umzugehen.

Irene Mutschler ist es wichtig, dass das Lernen auch reflektiert wird, dass sich die Kinder bewusst werden, was sie getan und vielleicht dabei gelernt haben, gerade weil sich die Stunden auf dem Listhof nicht wie klassische Schule anfühlen. So findet zum Abschluss eines jeden Tages eine Gesprächsrunde statt, in der alle Teams sagen, was sie getan haben und wieso sie es genau so getan haben. Nicht selten webt Irene Mutschler einen theoretischen Input in dieses Gespräch ein oder schreiben die Kinder ihre Erfahrungen in ihrem Tagebuch auf und hier passt dann das schultypische Schreiben und Sitzen auch wieder ins Bild.

 


Und was kommt dann?

Zurück in der Schule, stellt Irene Mutschler den Kolleg*innen, die die heiß begehrten Eier vom Listhof bestellt haben, die gefüllten Eierkartons in die Fächer im Lehrerzimmer. Wer weiß schon, was daraus schlüpft? Vielleicht eine neue Idee? Denn: So schön das Projekt auch ist, so ist doch zu bedauern, dass es nur für Schüler*innen der Unterstufe offen ist. Gerade die Älteren würden von einem solchen Projekt außerhalb der Schule profitieren, weil mit der Pubertät der Widerstand gegen die Schule, wie sie meist ist, erfahrungsgemäß wächst. Hierfür gibt es in Reutlingen erste Überlegungen und man darf gespannt sein, was daraus wird.

Im Fall des SchulHof-Projekts waren die Bedingungen ideal: eine langjährige Kooperation mit einem nahe gelegenen Umweltzentrum, mutige Lehrkräfte, eine begeisterte Schulleitung, ein unterstützendes Kollegium, Eltern, die sich überzeugen ließen, die richtigen Bewerber*innen für die von der Schule ausgeschriebenen Stellen, eine große Visionskraft und viel Durchhaltevermögen sowie ja, auch ein wenig Glück bei Wettbewerben, die den Beteiligten finanzielle Entlastung boten. Das Projekt zeigt: Es geht. Schule kann draußen stattfinden, zumindest für manche, zumindest ab und zu. 

 

 

Link zur Schulhomepage/SchulHof-Projekt: https://sprangerschule.net/unsere-schule/schulhof-am-listhof/ 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0

© Clara Baumgartner